In mehr als 100 Städten
schlugen die iranischen Sicherheitskräfte weitgehend friedliche Proteste mit
unverhältnismässiger Gewalt nieder. Mindestens 106 Menschen wurden dabei
getötet.
Aufgrund glaubwürdiger und
verifizierter Quellen wie Videomaterial, Augenzeugenaussagen und Informationen
von MenschenrechtsverteidigerInnen, muss Amnesty International den Tod von
mindestens 106 Demonstrierenden in 21 Städten bestätigen. Amnesty International
geht aber davon, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer viel höher ist.
Nicht verifizierte Berichte deuten darauf hin, dass bis zu 200 Menschen getötet
wurden, während staatliche Medien nur eine Handvoll Todesopfer unter den
DemonstrantInnen sowie den Tod von mindestens vier Mitgliedern der
Sicherheitskräfte meldeten.
Mit allen Mitteln
Überprüftes Videomaterial zeigt
Sicherheitskräfte, die Schlagstöcke, Schusswaffen, Wasserwerfer und Tränengas
einsetzen, um die Proteste zu zerstreuen. Bilder von Patronenhülsen auf dem
Boden deuten auf die Verwendung von scharfer Munition hin.
Die Proteste
begangen am 15. November aufgrund einer Benzinpreiserhöhung.
«Die iranischen Behörden müssen
diese brutale Repression sofort beenden. Die Sicherheitskräfte sind für die
Sicherheit der Demonstrantinnen und Demonstranten verantwortlich», sagte Philip
Luther, Direktor für Advocacy für den Nahen und Mittleren Osten bei Amnesty
International. «Die Häufigkeit, mit der im Iran mit tödlicher Gewalt gegen
friedliche Demonstrierende vorgegangen wird, sowie die systematische
Straffreiheit für Sicherheitskräfte, die den Tod von Protestierenden zu
verantworten hätten, wecken ernsthafte Befürchtungen, dass der vorsätzliche
Einsatz von Schusswaffen zur Niederschlagung von Protesten zu einer offiziellen
Politik geworden ist.»
In einer Rede am 17. November
bezeichnete der Oberste Führer des Iran die Demonstranten als «Verbrecher», die
von Konterrevolutionären und ausländischen Feinden des Iran zur Gewalt
aufgerufen wurden. Er befahl den Sicherheitskräften, ihre Pflichten zu
«erfüllen» die Proteste zu beenden. Damit gab er grünes Licht für die
Fortsetzung der brutalen Repression. Nach internationalem Völkerrecht dürfen
aber Sicherheitskräfte nur auf den Einsatz tödlicher Gewalt zurückgreifen, wenn
dies unumgänglich ist, um Leib und Leben von Dritten zu schützen.
Hunderte von Demonstrierenden
blockierten mit ihren Autos die Strassen. Von Amnesty International überprüftes
Videomaterial zeigt, wie die Bereitschaftspolizei daraufhin Autoscheiben
zerschmetterte, in denen sich noch Fahrer befanden. Laut Augenzeugenberichten,
die durch verifiziertes Videomaterial bestätigt werden, schossen Scharfschützen
von Dächern und in einem Fall aus einem Helikopter in die Menschenmassen.
Während die meisten
Demonstrationen friedlich waren, warf in einigen Fällen eine kleine Zahl von
Demonstrierenden Steine; auch wurden Banken und religiöse Bildungsanstalten
angezündet. «Selbst wenn eine Minderheit von Demonstrierenden zu Gewalt
übergeht, darf die Polizei nicht mehr Gewalt anwenden, als unbedingt notwendig,
verhältnismässig und rechtmässig ist. Gewalt, die von einer Minderheit der
Protestierenden ausgeht, rechtfertigt keinesfalls, dass allen Demonstrierenden
mit Repression begegnet und dabei der Tod von Demonstrantinnen und
Demonstranten in Kauf genommen wird», sagt Philip Luther.
Mehrere AugenzeugInnen berichten,
dass Sicherheitskräfte Leichen und Verletzte von Strassen und Krankenhäusern
weggebracht haben. Bereits bei früheren Massendemonstrationen haben sich die
Geheimdienst- und Sicherheitskräfte geweigert, die Leichen der Opfer an ihre
Familien zurückzugeben. Manche Familien wurden gezwungen, ihre Angehörigen in
aller Eile und ohne eine unabhängige Autopsie zu begraben. Dies steht im
Widerspruch zu internationalem Völkerrecht und Standards, die eine Untersuchung
von rechtswidrigen Tötungen verlangen.
Über Tausend Verhaftungen
Staatliche Medien berichteten am
17. November, dass seit Beginn der Proteste mehr als 1000 Personen verhaftet
worden seien. Zu den Inhaftierten gehört die Menschenrechtsverteidigerin
Sepideh Gholian. Sie wurde am 17. November verhaftet, weil sie friedlich ein
Schild hielt, auf dem sie die Erhöhung der Benzinpreise kritisierte. Ihr
Aufenthaltsort ist derzeit unbekannt. Amnesty International befürchtet, dass
sie gefoltert und anderweitig misshandelt werden könnte.
«Personen, die wegen friedlicher
Teilnahme an Demonstrationen und der Kritik an den Behörden verhaftet wurden,
müssen unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden. Alle Gefangenen
müssen vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden», sagt Philip
Luther.
Internet fast vollständig abgeschaltet
Am 16. November, weniger als
einen Tag nach Beginn der Proteste, schalteten die Behörden das Internet fast
vollständig ab und verunmöglichen so die Online-Kommunikation für Menschen im
Iran. Damit versuchen die iranischen Behörden, Menschen daran zu hindern,
Bilder und Videos des Vorgehens der Sicherheitskräften zu teilen. Laut der NGO
NetBlocks sind die internationalen Internetverbindungen seit Beginn der
Proteste auf 4 Prozent des normalen Niveaus gesunken. Auch Mobilfunknetze
wurden abgeschaltet. Nur Personen, die entsprechende Software (VPN) zur
Verfügung haben, können noch auf das Internet zugreifen.
«Das Aussetzens des Internets ist
ein systematischer Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäusserung und legt
nahe, dass die Behörden etwas zu verbergen haben. Die iranischen Behörden
müssen unverzüglich alle Beschränkungen für den Zugang zum Internet und zu
sozialen Medien aufheben, damit die Menschen Informationen austauschen und ihre
Meinung frei äussern können», sagte Philip Luther.
Justiz- und Sicherheitsbehörden
haben auch Massen-SMS verschickt, in denen sie den Menschen mit rechtlichen
Schritten drohensollten sich nicht von «illegalen Versammlungen» fernhalten.
«Anstatt grünes Licht für das
brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte zu geben, müssen die iranischen Behörden
ihre Sicherheitskräfte zügeln, um weiteres Blutvergiessen zu verhindern. Mit
diesen Aussagen der Regierung wird die seit langem herrschende Straffreiheit
für rechtswidrige Tötungen und Verletzungen im Iran fortgesetzt. Es sind nun
unabhängige unparteiische Kommissionen notwendig, die alle Fälle möglicher
willkürlicher und missbräuchlicher Gewaltanwendung untersuchen, und die
Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen», sagte Philip Luther.
«Die Uno und die einzelnen
Mitgliedsstaaten müssen das blutige Vorgehen im Iran öffentlich verurteilen.
Iran muss unabhängigen MenschenrechtsbeobachterInnen Zugang zu Krankenhäusern
und Haftanstalten im Land gewähren und die Blockade des Internets aufheben.»
HINTERGRUND
Am 15. November brachen im Iran
Proteste aus, nachdem die Regierung eine Reduktion der Subventionen für
Treibstoff ankündigte. Daraufhin schnellten der Treibstoffpreise und damit die
Lebenshaltungskosten im Iran in die Höhe. Die Menschen leiden bereits seit
längerer Zeit unter der Wirtschaftskrise im Iran. Das trieb die Menschen auf
die Strasse. Einige DemonstrantInnen forderten die radikale Änderung des
politischen Systems, andere verbrannten Poster der aktuellen und ehemaligen
religiösen und politischen Oberhäuptern des Landes.
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ZDF 20.11.2019
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