Freitag, 8. März 2013

Reiches Belutschistan, arme Belutschen- Sie leben in drei Ländern und kämpfen seit Jahren für mehr Autonomie



Anders als das Morden in Darfur oder Tschetschenien fällt der langsame Genozid in Belutschistan noch nicht unter die Kategorie einer schweren humanitären Katastrophe. Im August 2006 mussten "nur" 2 260 Menschen in den Bergen und Wüstenstrichen dieser Provinz im Südwesten Pakistans ihre Dörfer verlassen. Sie flohen vor den Bomben der F-16-Kampfflugzeuge, die Pakistans Luftwaffe aus den USA bezieht. Doch je mehr Tote und Verletzte es gibt, umso schwerer lässt sich über das Leid hinwegsehen, das der Unabhängigkeitskampf der Belutschen verursacht, und umso deutlicher treten die politischen Auswirkungen hervor, die der Konflikt auf andere aufsässige Minderheiten im multiethnischen Pakistan hat.
Auch in der im Osten angrenzenden Provinz Sindh gibt es separatistische Kräfte, die wie die Belutschen gegen das von Pundschabis dominierte Militärregime des Generals Pervez Musharraf opponieren. Sie fordern einen souveränen Sindh-Staat beziehungsweise eine Föderation von Sindhi und Belutschen, die sich im Süden Pakistans entlang des Arabischen Meers von der iranischen bis zur indischen Grenze erstrecken würde. Führende Köpfe der Sindhi äußern inzwischen freimütig die Hoffnung, dass die indische Regierung aufgrund der unsicheren Lage in Pakistan bald versucht sein müsste, ihnen militärischen und ökonomischen Beistand zu leisten.
Als 1947 Pakistan als einer der beiden nachkolonialen Erben von Britisch-Indien entstand, hatten die 6 Millionen pakistanischen Belutschen keine Wahl: Sie wurden dem muslimischen Pakistan zugeschlagen. Seitdem haben sie schon dreimal gegen ihre wirtschaftliche und politische Diskriminierung durch die Zentralregierung rebelliert.
Am härtesten waren die Kämpfe während des Aufstands von 1973 bis 1977, als sich zeitweise rund 55 000 belutschische Kämpfer und rund 80 000 pakistanische Soldaten gegenüberstanden. In einer der entscheidenden Schlachten von 1974 griffen pakistanische Truppen Dörfer im Chamalang-Tal an. Dabei wurden die Lager von etwa 15 000 Familien, die ihr Vieh in die fruchtbare Ebene hinabgetrieben hatten, niedergebrannt. So wurden die Guerillakämpfer gezwungen, ihre Verstecke in den Bergen zu verlassen, um Frauen und Kinder verteidigen zu können. Damals unterstützte der Iran die pakistanische Regierung mit 30 Kampfhubschraubern, denn Schah Resa Pahlewi fürchtete, der Aufstand könnte auch auf die 1,2 Millionen Belutschen im Ostiran übergreifen.
Der gegenwärtige Kampf begann im Januar 2005. Um den Aufstand niederzuschlagen, bedient sich das Musharraf-Regime teils noch repressiverer Methoden als seine Vorgängerregierungen. In der Vergangenheit wurden separatistische Aktivisten in der Regel festgenommen und wegen konkreter Vergehen formell angeklagt und verurteilt. Die Familien wurden benachrichtigt, in welchem Gefängnis die Verurteilten ihre Strafe abzusitzen hatten. Heute dagegen gibt es immer wieder Fälle von "Kidnapping" und "Verschwindenlassen", klagen die Repräsentanten der Belutschen. Sie werfen den pakistanischen Streitkräften vor, hunderte von Jugendlichen ohne nähere Angabe von Gründen festgenommen und an unbekannte Orte verschleppt zu haben.
Im Gegensatz zu früher hat es die Regierung in Islamabad bislang jedoch nicht geschafft, die zerstrittenen Stämme gegeneinander auszuspielen. Darüber hinaus hat sie es nun mit einer vereinten nationalistischen Bewegung zu tun, deren junge Kader sich nicht nur aus den Reihen der Stammesführer rekrutieren, sondern auch aus einer aufstrebenden, gebildeten Mittelschicht, die in Belutschistan vor dreißig Jahren noch gar nicht existierte. Und die Kampfeinheiten der Belutschen, die sich Balutchistan Liberation Army (BLA) nennen, sind heute besser bewaffnet und disziplinierter. Nach Aussagen der BLA-Führer stammt das Geld für die Waffen, die sie sich auf dem Schwarzmarkt entlang der afghanischen Grenze beschaffen, von reichen Belutschen und Sympathisanten in den Golfstaaten.
Musharraf hat wiederholt behauptet, dass Neu-Delhi die aufständischen Belutschen mit Waffen versorge und auch separatistische Gruppen in der Grenzprovinz Sindh finanziere. Beweisen kann er das jedoch nicht. Die indische Regierung weist die Anschuldigungen zurück, äußert aber in regelmäßigen Abständen ihre Besorgnis über die Kämpfe und fordert im Übrigen einen politischen Dialog.
Den Verdacht, dass Indien die Aufständischen in Belutschistan und Sindh unterstützen könnte, falls die Lage in Pakistan unsicherer wird, weist Neu-Delhi weit von sich. Man wünsche sich im Gegenteil ein stabiles Pakistan, mit dem ein Friedensabkommen für Kaschmir möglich wird, damit beide Seiten ihre kostspieligen Rüstungsprogramme zurückfahren können. Allerdings scheinen viele indische Kommentatoren nicht allzu unglücklich darüber zu sein, dass die Kräfte des Musharraf-Regimes in Belutschistan gebunden sind. Schließlich könnte ein zweiter Krisenherd den Präsidenten zwingen, die Unterstützung für die islamistischen Rebellen in Kaschmir zu reduzieren.
Anders als in Indien lebt im Iran eine Minderheit von über einer Million Belutschen - überwiegend Sunniten. Somit hat der Iran gute Gründe, einen belutschischen Nationalismus zu fürchten. Die Volkspartei Belutschistans (BPP), die einen Teil dieser Minderheit im Iran repräsentiert, beschwerte sich Anfang August über die Aktivitäten des radikalen schiitischen Geistlichen Ajatollah Ibrahim Nekoonam, der vor kurzem zum Justizminister der iranischen Provinz Belutschistan bestellt wurde. Der Ajatollah habe eine Repressionskampagne gestartet, bei der Militär- und Polizeieinheiten, angeleitet von der Geheimpolizei Mersad, hunderte von Menschen festgenommen hätten. Anschließend seien viele der Verhafteten der Kollaboration mit den USA beschuldigt und hingerichtet worden.
Die Belutschen des Iran sind nicht nur weniger als die in Pakistan, sie sind auch nicht so nationalbewusst und zudem schlechter organisiert. Ihre wichtigsten Führer halten nichts von der Idee einer Sezession oder einer Vereinigung mit den Belutschen Pakistans. Die erwähnte BPP etwa ist in eine Koalition von Volksgruppen eingebunden, die auch andere diskriminierte Minderheiten des Iran wie die Kurden, die Aseris, die Türken und die Araber der an den Irak grenzenden Provinz Khusestan repräsentiert. Diese Koalition will den Iran in eine Föderation umwandeln, innerhalb derer der iranische Zentralstaat die Zuständigkeit für Außenpolitik, Verteidigung, Telekommunikation und Außenhandel behalten, alle sonstigen Kompetenzen aber an die drei autonomen Regionen abtreten würde, in denen die Minderheiten dominieren.

Hier lagern die meisten Ressourcen Pakistans

Dagegen meinen viele der führenden pakistanischen Belutschen, die sich im Zuge der ständigen Kämpfe mit der Armee radikalisiert haben, dass ein Aufstand die Unabhängigkeit zum Ziel haben müsse. Es sei denn, das Militärregime gewährt ihrer Provinz endlich die laut Verfassung von 1973 vorgesehene Autonomie. Die Verfassung hat Musharraf jedoch - wie alle Militärregierungen vor ihm - außer Kraft gesetzt. Aber was die Belutschen wie die Sindhi und die Paschtunen - eine dritte, wenn auch stärker assimilierte Minderheit - vor allem wollen, ist ein Ende der krassen ökonomischen Diskriminierung durch die dominante Volksgruppe der Pundschabi.
In Belutschistan lagern die meisten der natürlichen Ressourcen Pakistans, vor allem Erdgas, Uran, Kupfer und potenziell reiche Ölvorkommen. Obwohl zum Beispiel 36 Prozent des in Pakistan geförderten Erdgases aus Belutschistan stammen, verbrauchen die Belutschen nur einen Bruchteil davon, weil die Region die ärmste des ganzen Landes ist. Jahrzehntelang haben die von Pundschabis dominierten Zentralregierungen den Belutschen einen fairen Anteil an den Entwicklungsfonds verweigert und lediglich 12 Prozent der Summen ausgezahlt, die der Provinz für das dort produzierte Erdgas zustehen. Ähnlich ergeht es den Provinzen der Sindh und der Paschtunen, denen der Zugang zum Indus schon lange verwehrt wird - dessen Wasser wird über Staudämme und Kanäle in die Provinz Pundschab geleitet.
Staatspräsident Musharraf hat am 20. Juli in einer Fernsehrede den Vorwurf zurückgewiesen, dass Belutschistan ökonomisch benachteiligt werde, und ein Entwicklungsprogramm von 49,8 Millionen Dollar angekündigt. Die eine Hälfte soll in den Straßenbau, die andere in sonstige Infrastrukturprojekte der Provinz fließen. Die "wahren Ausbeuter der Belutschen", so Musharraf, seien die Stammesoberhäupter, die sogenannten Sardars, die hätten "die Entwicklungsgelder in die eigenen Taschen gesteckt". Die Armee habe man nur nach Belutschistan entsandt, um die Bevölkerung vor ihren eigenen Führern zu beschützen und zugleich die Entwicklungsprojekte voranzutreiben. Für den Aufstand machte der Staatspräsident die Sardars und vor allem Akbar Bugti verantwortlich, der am 26. August getötet wurde, als die Armee sein Höhlenversteck sprengte.
Das Erstaunlichste an der neuen Rebellion ist die Tatsache, dass deren Anführer nicht mehr die Stammesältesten sind, sondern eine neue Generation mit dezidiert politischem Bewusstsein. Das bedeutet auch, dass bei möglichen Verhandlungen über eine Autonomie der Provinz knifflige ökonomische Fragen zu klären wären: zum Beispiel die Besteuerung oder die Aufteilung der Gewinne aus der Öl- und Gasförderung.
Die Führer der Belutschen und der Sindh gehen bei ihren Vorschlägen, die eine Verlagerung der Macht auf die Provinzen vorsehen, zumeist davon aus, dass die von der Zentralregierung erhobenen Steuern nicht mehr nur nach Einwohnerzahl auf die Provinzen verteilt werden sollten, denn dieses geltende System begünstigt den bevölkerungsreichen Pundschab. Künftig sollte sich nur noch die eine Hälfte nach der Einwohnerzahl, die andere aber nach dem Steueraufkommen der jeweiligen Provinz richten.
Des Weiteren plädieren die bevölkerungsärmeren Provinzen für eine Aufwertung des Senats. Da in dieser zweiten Kammer alle Provinzen gleich viele Stimmen haben (selbst nach der suspendierten Verfassung von 1973), soll der Senat größere Machtbefugnisse erhalten. Zum Beispiel sollte er - und nicht der Präsident oder der Premierminister - die Kompetenz haben, ein Provinzparlament aufzulösen oder den Ausnahmezustand auszurufen. Eine weitergehende Forderung zielt sogar auf vollständige Parität. Das hieße, dass alle vier Volksgruppen - Belutschen, Paschtunen, Sindh und Pundschabis - unabhängig von ihrer Größe in beiden Kammern des Parlaments wie auch im öffentlichen Dienst und in der Armee gleich stark vertreten sein sollen.
Für alle Fraktionen der ethnischen Minderheiten ist die wichtigste Forderung eine radikal verbesserte Repräsentation im öffentlichen Dienst und in der Armee. Und alle fordern verfassungsmäßige Garantien gegen die Willkür der Zentralregierung, die es zum Beispiel verbieten würden, eine gewählte Provinzregierung einfach abzusetzen, wie es Premierminister Zulfikar Ali Bhutto 1973 getan hatte. Den Minderheiten kommt es sowohl auf eine substanzielle als auch auf die gefühlte Autonomie an.
Die Belutschen machen nur 3,57 Prozent der 165,8 Millionen Einwohner Pakistans aus, und auch zusammen kommen die drei Minderheiten nur auf 33 Prozent. Doch alle drei identifizieren sich mit ihren ethnisch definierten Heimatgebieten, die insgesamt 72 Prozent des pakistanischen Staatsgebiets ausmachen. Die Mehrheit der Pundschabis findet es dagegen unerträglich, dass die Minderheiten Besitzansprüche auf so große Gebiete des Landes erheben. Somit bestehen kaum Aussichten, dass die Verfassung von 1973 tatsächlich wieder wirksam wird.
Letzten Endes ist ein möglicher Verfassungskompromiss an den Erfolg des Kampfes für eine umfassende Demokratisierung gebunden. Angesichts der anhaltenden Militärherrschaft wird sich die Rebellion der Belutschen - ebenso wie die wachsende Bewegung der Sindhis - immer stärker radikalisieren. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Belutschen - selbst mit der Unterstützung der Sindhis - die pakistanischen Streitkräfte militärisch besiegen und einen unabhängigen Staat etablieren können - es sei denn, Indien würde intervenieren. Derzeit spricht also vieles dafür, dass der unentschiedene Kampf zwischen Belutschen und Sindhi auf der einen und der Regierung in Islamabad auf der anderen Seite weitergehen und das Land schwächen wird.
In den Augen von Belutschen und Sindhis liegt ein erheblicher Teil der Verantwortung für die gegenwärtige Krise bei den USA. Zum einen, weil sie die militärische Hardware liefern, mit denen die pakistanische Armee den Aufstand der Belutschen unterdrückt, zum anderen weil ihre Wirtschaftshilfe, die seit dem 11. September 2001 noch reichlicher fließt, dem Musharraf-Regime das Überleben sichert. Die direkte Militärhilfe für Islamabad summiert sich von September 2001 bis heute auf 900 Millionen Dollar (diese Gelder ermöglichten auch den Kauf von 36 F-16-Kampfflugzeugen), bis 2009 sind weitere 600 Millionen Dollar vorgesehen. An Wirtschaftshilfe bezog Pakistan im selben Zeitraum 3,6 Milliarden Dollar direkt von den USA oder auf Veranlassung Washingtons von multilateralen Institutionen. Hinzu kommt noch der von den USA arrangierte Aufschub für die fällige Rückzahlung von etwa 13,5 Milliarden Dollar, die Pakistan anderen Geberländern schuldet.
Statt Musharraf zu einer politischen Lösung zu drängen (was EU-Vertreter getan haben), begnügt sich die Bush-Regierung mit der Feststellung, die ethnischen Spannungen seien eine "innere Angelegenheit" Pakistans, für die das Land eigene Wege finden müsse. Dagegen fordern Menschenrechtsorganisationen, man müsse Musharraf durch internationalen Druck zu einer Lösung bewegen. Auch in den USA gibt es Kritiker, die ein anderes Argument vorbringen: Die Entsendung von pakistanischen Streitkräften nach Belutschistan, die zuvor mitsamt dem von den USA gelieferten Material an der afghanischen Grenze eingesetzt waren, schwächt die ohnehin nur begrenzten Operationen, die Musharraf unter dem Druck der USA gegen al-Qaida und die Taliban unternimmt.
Solange Bush im Amt ist, werden die USA wohl an Musharraf festhalten. Es sei denn, es tritt der unwahrscheinliche Fall ein, dass der General unter dem wachsenden innenpolitischen Druck zurücktritt und den früheren Regierungschefs Benazir Bhutto und Nawaz Scharif die Möglichkeit gibt, für die im nächsten Jahr anstehenden Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Selig S. Harrison ist Direktor des Asienprogramms am Center for International Policy in Washington.
Le Monde diplomatique Nr. 8098 vom 13.10.2006, 406 Zeilen, Selig S. Harrison


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